Die Gemeinde Heilig Kreuz zu Weingarten
im Spiegel der Kirchenbücher des 18. Jahrhunderts
Von Friederike Kuhl


Die Lebensdaten der Gemeinde im 18. Jahrhundert - eine Vitalstatistik
a) Anlaß und Ziel der Arbeit
b) Die Kirchenbücher
c) Zeitraum und Methode der Untersuchung
d) Mortalitätsmaxima 1730 und 1734
e) Die Pocken, der Österreichische Erbfolgekrieg, Flecktyphus und Überschwemmung, die Mortalitätsmaxima 1739-1749
f) Der Siebenjährige Krieg und Naturkatastrophen
g) Das letzte Jahrzehnt im 18. Jahrhundert, die Franzosenzeit
h) Zusammenfassung der Ergebnisse


e) Die Pocken, der Österreichische Erbfolgekrieg, Flecktyphus und Überschwemmung, die Mortalitätsmaxima 1739-1749


In den Jahren 1739 bis 1743 übersteigt die Begräbniskurve anhaltend die der Taufen, bleibt nur im Jahre 1742 knapp darunter. 1741 liegt ein Maximum von 233% und 1743 sogar von 292% vor. Das führt dazu, daß der Zehnjahresdurchschnitt der Begräbnisse, der im Jahrzehnt von 1731 bis 1740 von 11,2 auf 7,9 um 30% gefallen war, im folgenden Jahrzehnt wieder ansteigt, während die Zahl der Taufen von 14,3 auf 12,4 im Zehnjahresdurchschnitt zurückgeht.

Dieser auffallende Befund findet in der Nachbargemeinde Arloff-Kirspenich eine Entsprechung. Auch dort steigt in dem Jahrzehnt von 1741 bis 1750 der Durchschnittswert an Begräbnissen und der der Taufen nimmt ab. Anstieg und Abschwung verlaufen dort sogar steiler als in der Gemeinde Heilig Kreuz. Im Jahre 1743 überschneidet auch dort die Mortalitätskurve deutlich die der Taufen und beträgt 173 % des Zehnjahresdurchschnittswertes.

Die Ursachen für die hohe Zahl an Begräbnissen sind verschiedener Art. Vom 4. November 1739 bis 4. Januar 1740 starben 10 Kinder an den Pocken; damit ist die hohe Sterbezahl für 1739 erklärt. Aber da 1740 nur Erwachsene starben, ist die anhaltend hohe Anzahl, die über der der Taufen bleibt, für 1740 nicht geklärt.

Die Mortalitätsmaxima von 1741 und 1743 dagegen zeigen deutlich, wie die Gemeinde von den historischen politischen Ereignissen der damaligen Zeit. in. Mitleidenschaft gezogen wurde. Es waren schlimme Jahre für die Bewohner des Erfttales und darüber hinaus für das ganze Gebiet des Kölner Raumes. 3

Der Österreichische Erbfolgekrieg von 1740-1748 ließ ganz Mitteleuropa je nach Interessenlage Partei nehmen für Österreich oder Preußen. Dabei war die Zivilbevölkerung zwar weniger direkt, wie heute bei der modernen Kriegführung, von der Gewaltanwendung der Kampfhandlungen betroffen; damals waren es vor allem die dauernden Durchzüge und Einquartierungen der nicht enden wollenden, zum Kampfgebiet in Mitteldeutschland aufmarschierenden Heereszüge, die mit ihren Forderungen an Verpflegung, Geld, Ausrüstungsgegenständen, Hilfsdiensten und Futter für die Pferde Land und Leute bis zur völligen Erschöpfung ausplünderten. Hunger, Not und Seuchen waren die Begleiterscheinungen, die Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. 4

Bei den Geschichtsschreibern werden von den Kriegen meistens nur die großen Siege oder Niederlagen mit ihren die Lage verändernden Auswirkungen erörtert. Für eine so kleine Gemeinde wie Heilig Kreuz kann daher nur eine lokale Berichterstattung einigen Aufschluß darüber geben, was sich hier zugetragen hat und was die Menschen unter der Last des Krieges zu erdulden hatten. Eine spezielle lokale Berichterstattung liegt für Weingarten, Rheder und Billig zwar direkt nicht vor, aber für die benachbarten Städte Euskirchen und Münstereifel gibt es mit der "Geschichte der Stadt Euskirchen" von Karl Gissinger von 1902 und der "Chronik Münstereifels" von Toni Hürten von 1969 zwei Dokumentationen, die zeitgenössische Ratsprotokolle verarbeitet haben und Einzelheiten berichten. 5 Da die Pfarre Heilig Kreuz mit den Dörfern Weingarten und Rheder auf der direkten Verbindungsstraße zwischen diesen beiden Städten liegt und die Kriegsvölker vor der Zuständigkeit unterschiedlicher Territorialgewalten keinen Unterschied machten, dürften die Nachrichten über Einquartierungen und Requisitionsbefehle aus den beiden Nachbarstädten in gleicher Weise auf die Dörfer unserer Gemeinde zu beziehen sein.

Gissinger schreibt zu diesen Jahren: "Fortwährend lagen englische, österreichisch-ungarische und deutsche Truppen in unserer Gegend, wodurch die Bewohner schwer zu leiden hatten.“ 6 1741 rückten starke französische Verbände von 1000 Dragonern und 6000 Mann zu Fuß ins Herzogtum Jülich ein, für die Unterhaltung der Truppen "soll die Stadt (Münstereifel, d. Verf.) 214 Rtlr. (Reichstaler) zahlen und 348 Gebund Heu, 19 Sack Hafer, 122 Gebund Stroh am 8. Sept. nach Kinsweiler-Waden ... liefern.“ 7 Im Oktober wurden schon wieder 64 Malter Roggen, 26 Malter Weizen, 927 Portionen Hafer, 927 Rationen Heu und 81 Rationen Stroh gefordert. Im November rückte eine französische Esquadron, 100 Pferde stark, in Münstereifel ins Winterquartier ein. 8 Dann folgt in den Berichten über Münstereifel sowohl wie auch über Euskirchen bis zum Jahre 1747 ein Truppendurchzug dem anderen und eine Requisitionsforderung und Einquartierung der anderen. Gissinger berichtet: "Am 10. Juni 1742 erschien eine Esquadron französischer Kavallerie mit 268 Pferden" (in Euskirchen, d. Verf.). 9 Über diese französischen Truppen heißt es in der Münstereifeler Chronik bereits zum 7. Juni "Das französische Dragonerregiment de Hurley kommt von Andernach die SchIeid herunter und wird in der Umgebung in Arloff, Kirspenich, Weingarten, Rheder, Antweiler, Lessenich, Rißdorf einquartiert. Der Dingstuhl Arloff erhebt gegen die Einquartierung Einspruch beim Landeskommissar von Bornheim."

Hier sind Weingarten und Rheder sogar einmal namentlich erwähnt. 10 Auch der Euskirchener Magistrat versuchte, in Düsseldorf beim Kurfürsten Karl Philipp Abhilfe zu erlangen, richtete aber nichts aus. 11 Bei Gissinger steht: "...die pfälzische Regierung konnte nichts tun, sie war den Verhältnissen gegenüber ohnmächtig." Wir sehen also die ganze Gegend hier ohne Ausnahme den Zwängen des Krieges ausgeliefert.

Aufschlußreich für die Erklärung des Maximums an Begräbnissen von 296 % im Jahre 1743 in der Gemeinde sind noch folgende Eintragungen. Gissinger schreibt: „1743 zog die große pragmatische Armee, aus Engländern, Österreichern, Hannoveranern und Hessen bestehend, von den Niederlanden aus durch die Jülicher Lande gegen die Franzosen." - Münstereifel und Euskirchen werden bei der Beschreibung ihres Weges ausdrücklich erwähnt. Und weiter heißt es dann: „...außerdem mußte die Stadt in das Lazarett der Österreicher nach Münstereifel 1000 Gebund Stroh zu 40 Rtlr. liefern.“ 12 In der Chronik von Münstereifel lesen wir über dieses Lazarett: „1743, Juli 29. Gott sey gelobd undt gedanket, daß die hier zurückgelassenen Kranken der österreichisch-ungarischen Truppen. ..nach Luxemburg abgezogen sind. Die Stadt mußte hierzu 102 Karren und 252 Pferde stellen. Die Kranken hatten eine Infektionskrankheit, an der viele Bürger und Geistliche gestorben und noch krank darnieder liegen.“ 13 Diese "Infektionskrankheit" hat sicherlich auch in der Gemeinde Heilig Kreuz zu dem hohen Anstieg der Sterbefälle geführt.

Die epidemieartige Verbreitung derartiger Infektionen war bei den damals herrschenden hygienischen Verhältnissen sozusagen vorprogrammiert. Man wußte nichts von Bakterien; Desinfektion oder Quarantäne waren daher unbekannt, sanitäre Anlagen und Kanalisation gab es überhaupt nicht. Unter dem genannten "Lazarett" darf man sich daher nicht ein Krankenhaus nach heutigem Muster vorstellen, sondern allenfalls eine Scheune, wo man die Kranken auf eine Strohschüttung bettete, von deren Lieferung ja oben auch die Rede ist. Die zu Hilfsdiensten verpflichteten Bürger mußten da aus und eingehen, das Rote Kreuz mit ausgebildetem Pflegepersonal gab es noch nicht; und der infektiöse Unrat sowie die Exkremente wurden, wenn überhaupt, irgendwie beiseite geschafft in der Enge der kleinen, noch nach mittelalterlicher Weise angelegten Städte und Dörfer.

Daß auch in der Gemeinde Arloff die Zahl der Begräbnisse im Jahre 1743 auf 173 % anstieg, dürfte als Beweis dafür gelten, daß es sich um ein und dieselbe, durch die Truppen eingeschleppte Krankheit handelte, die im Erfttal grassierte.

Über die Art der "Infektionskrankheit" wird nichts berichtet, es ist aber gut möglich, daß es es sich dabei um das Fleckfieber, auch Flecktyphus genannt, handelte. Dieser typische Kriegstyphus ist auch 1812/13 von den aus Rußland zurückflutenden Truppen Napoleons über ganz Europa verbreitet worden. 14 Die abschließende Bemerkung des Chronisten aus Münstereifel über die Lage in der Stadt nach dem Abzug der Österreicher mag genauso auch auf die anderen Gemeinden des Erfttales zu beziehen sein. Dort heißt es: "Es bleibt eine verarmbte Bürgerschaft, die das liebe Brot für Frau und Kinder nicht mehr auf noch beibringen kann.“ 15

Durch die Forderungen der durchziehenden und einquartierten Truppen war das Land rücksichtslos ausgeplündert worden, und da es allen umliegenden Ländern und Gemeinden genauso erging, war Ersatz an Nahrung kaum zu beschaffen; wenn überhaupt, dann nur von sehr weit her. Handel und Wandel aber lagen völlig darnieder. 16 Infolge langer Transportwege, erhöhter Nachfrage und des allgemeinen Nahrungsmangels waren die Getreidepreise dann aber so hoch, daß eine ohnehin arme und ganz auf Naturalwirtschaft eingestellte Bevölkerung, der die durchziehenden Heere auch die letzte Reserve genommen hatten, überhaupt nicht in der Lage war, sich Nahrung anderswo zu erwerben, zumal in den Jahren 1739-43 den Quellen nach ganz Westeuropa von einer Reihe von Mißernten betroffen war. 17 Auf den Dörfern mag vielleicht kaum jemand direkt verhungert sein, aber alle waren doch dauernd unterernährt und geschwächt, vor allem die Kinder. So hatten Krankheiten leichtes Spiel und forderten ihre Opfer.

Die Einquartierungen und Forderungen von Getreide, Heu, Vieh, Geld und Arbeitsleistungen gingen noch jahrelang weiter, dazu kam 1748 Dürrezeit, gefolgt von Überschwemmungen und Viehseuche 1749 bis 1751 18, und es ist erschütternd festzustellen, wieviel Not und Elend dem für uns jetzt eher harmlos erscheinenden Anstieg der Zehnjahresdurchschnittswerte bei den Begräbnissen bzw. dem Absinken der Zahl der Taufen um 2 bis 3 Punkte zu Grunde liegt. Andererseits finden wir aber auch bestätigt, daß die Ergebnisse demographischer Untersuchungen sehr wohl geeignet sind, auch bereits bei geringen Anzeichen, Krisensituationen in einer Bevölkerung nachzuweisen.


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Entnommen: „1100 Jahre Wingarden“ - Kreuzweingarten 893-1993 - Mai 1993


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