Die Gemeinde Heilig Kreuz zu Weingarten
im Spiegel der Kirchenbücher des 18. Jahrhunderts
Von Friederike Kuhl


Die Taufen
a) Methodische Erörterungen zur Familienrekonstitution und die Quellenlage
b) Taufen, Geburten, Familienplanung
c) Patenschaft und Namensgebung
d) Nottaufen
e) Zwillinge
f) Illegitime


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II. Die Taufen


a) Methodische Erörterungen zur Familienrekonstitution und die Quellenlage


Sippen und Familienforschung waren in Deutschland durch die nationalsozialistische Rassenideologie in Verruf geraten. Die in den 1930er Jahren begonnenen Arbeiten an Dorf-, Orts- und Sippenbüchern sowie Familienbüchern und anderen genealogischen Untersuchungen wurden von deutschen Historikern nach dem Zweiten Weltkrieg daher gemieden, während in England und Frankreich in dieser Zeit die historische Demographie auf der Grundlage der Familienrekonstitution begründet wurde. 1 In Deutschland wurden von wissenschaftlicher Seite historisch demographische Untersuchungen erst seit 1976 vorgenommen.

"Während auf Grund der Auszählmethode (nicht namentliche Methode, d. Verf) der allgemeine Trend einer Bevölkerungsentwicklung nachgezeichnet werden kann und in begrenztem Ausmaß demographische Detailstudien möglich sind, so läßt sich eine tiefergreifende Analyse für jene Zeit vor den Statistischen Zentralbüros doch nur mit Hilfe der Familienrekonstitution durchführen.“ 2

Bei dieser Untersuchungsmethode werden die Eintragungen aus den Registern der Kirchenbücher auf Karteikarten übertragen. Für jede Familie wird eine Karte angelegt, und mit Hilfe aller diese Familie betreffenden Datumseintragungen wird die ganze Familie wieder zusammengestellt, "rekonstituiert", mit Heirats-, Tauf- und Beerdigungsdaten. Die auf vielen Familienkarten gewonnenen Mitteilungen werden dann nach gemeinsamen Regeln auf bestimmte Fragestellungen hin untersucht.


Zur Veranschaulichung dient das beigefügte Beispiel einer Familienkarte.

Graphik 3


Da eine Karte dieser Art vor allem auf die Person des Mannes orientiert ist und auch nur einen der Ehepartner in erster Linie berücksichtigen kann, zumal der Name des Vaters auf die Kinder übergeht, wurde auch für jede Frau eine weitere Karte eingerichtet, um auch bei ihr die übernommenen Patenschaften, Wiederverheiratungen, Dauer der Witwenschaft oder auch ihre weiteren Lebensdaten nach einer nichtehelichen Geburt verfolgen zu können.

Die Rekonstitution der Familien auf den Karteikarten führt durchaus nicht immer zum Erfolg. Um nämlich alle gewünschten Untersuchungen durchführen zu können, muß eine Familie " vollständig" sein, d. h. auf der Karte müssen die Angaben von Tauf und Begräbnisdaten der Eltern und sämtlicher Kinder sowie das Heiratsdatum vollständig vorhanden sein.

Imhof schreibt in der Einleitung zu seiner Untersuchung: "...doch setzten wir unsere Untersuchungen aus Repräsentativgründen erst mit dem Jahrzehnt 1691-1700 ein, als der Anteil der Familien mit vollständigen Angaben (Tauf und Beerdigungsdaten von Eltern und Kindern, Heiratsdatum der Eltern) 50 Prozent überstieg.“ 3

Er hatte also mit seinen Studenten nach der Beendigung der Vorarbeiten an der Kartei mehr als die Hälfte für die Untersuchungen brauchbaren Materials gewonnen.

Der Stand der Überlieferung in den Kirchenbüchern der Gemeinde Heilig Kreuz zu Weingarten enthält im 18. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt einen so hohen Anteil an voll brauchbarem Untersuchungsmaterial. Vielmehr beträgt er in den einzelnen Jahrzehnten nur 7,5% bis 21 %, der Durchschnitt liegt bei 14,2% aller Ehepaare. Von "repräsentativ" im demographisch statistischen Sinne kann also leider nicht die Rede sein. (s. Tab. 1)

Ein Grund für die Unvollständigkeit der Familiendaten ist in der starken Zu- und Abwanderung innerhalb der Bevölkerung zu sehen, deren Untersuchung später durchgeführt wird, denn es fehlen immer die Taufdaten der zahlreich von anderswo zuheiratenden Ehepartner und häufig die Heiratsdaten bei auswärts erfolgten Trauungen, außerdem wanderten viele Paare ab.

Ein anderer Grund ist die ohne Zweifel lückenhafte Sterbeliste; für einen großen Teil der Bewohner der Gemeinde fehlt ein Datum von Tod und Begräbnis. Ganz deutlich wird diese Lückenhaftigkeit bei der Materialsammlung, wenn ein Mann eine neue Ehe eingeht, ohne daß der Tod der ersten Frau bekannt geworden ist. Die Familien ohne Heiratsdatum und ohne Todesdatum der Eltern stehen für die meisten Untersuchungen nicht zur Verfügung, da man nicht weiß, wann die Ehe wirklich endete. Die Berechnung der Kindersterblichkeit ist bei der Lückenhaftigkeit des Sterberegisters ebenfalls unsicher.

Bei den wissenschaftlichen statistischen Untersuchungen an den Familien ist es natürlich erforderlich, daß sie unter einheitlichen Bedingungen stattfinden. Daher genügt zur "Vollständigkeit" einer Familie im demographischen Sinne nicht, daß alle Daten vollständig vorhanden sind, sondern es muß sich in dieser Familie bei beiden Ehepartnern um eine Erstehe handeln, und die Ehe muß auch zeitlich vollständig sein, d. h., beide Ehepartner müssen bis zum Ende der fruchtbaren Jahre der Frau, also bis sie etwa 50 Jahre alt war, weitergelebt haben. 4 In vielen Familien aber starb einer der Ehepartner bereits, bevor die Frau das 50. Lebensjahr erreicht hatte. Bei einem nicht geringen Prozentsatz der Eheschließungen ging daher ein Partner eine Zweitehe ein, die für die Untersuchungen nach den Regeln der historischen Demographie nicht zur Verfügung steht. Die Tabelle 1 gibt Auskunft über den Prozentsatz der gegenseitigen Erst Ehen, der vorzeitig beendeten Erst Ehen, über den Anteil der vollständigen Familien und über Anzahl und Prozentsatz der Eheschließungen, bei denen wenigstens ein Partner bereits verwitwet war.

Tabelle 1: Quellenlage und Schrumpfung des Untersuchungsmaterials

Zeitraum

a)
Heiraten
gesamt

b)
Erst-
Ehen

Von b)
vorzeitig
beendet

Vollst.
Familien

%
von
b)

%
von
a)

Wieder-
verhei-
ratungen

1721-1800

294

195
66 %

52
27%

42

21,50%

14,20%

99
34 %


Das bei der Karteiaufnahme gesammelte Material schrumpft unter den von wissenschaftlicher Seite geforderten Bedingungen also auf 14,2 % zusammen, und es muß wohl als typisch für diese Voreifelgemeinde angesehen werden, daß

  1. nur 66 % aller Ehen für beide Partner die Erst Ehe sind;

  2. 27% der Erst Ehen vorzeitig enden;

  3. die allgemeine Quellenlage wegen der starken Fluktuation innerhalb der Bevölkerung lückenhaft ist;

  4. nur 21,5% der erfaßten Erst-Ehen die von wissenschaftlicher Seite geforderten Bedingungen für historisch demographische Untersuchungen erfüllen können.

Der geringe Prozentsatz von 14,2 % an geeigneten, weil vollständigen Familien kann nicht als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung angesehen werden. Man würde diese an Lebenszeit und damit auch an Ehedauer und Kinderzahl herausragenden wenigen Ehepaare zur Norm erheben, die vielleicht auf Grund einer guten körperlichen Konstitution und glücklicher Umstände, - keine Seuche, kein Kindbettfieber, kein Unfall, - bis zur Menopause der Frau gemeinsam in einer Erst-Ehe leben konnten. Hinsichtlich der Fragen, die Lebenserwartung und Fruchtbarkeit betreffen, würde das Ergebnis nur die biologischen Möglichkeiten, nicht aber die historische Realität wiedergeben. Die Tabelle 10 im Kap. III kann das hinsichtlich der Kinderzahl in vollständigen bzw. nicht vollständigen Familien belegen.

Es kann nicht Anliegen und Aufgabe dieser kleinen Arbeit sein, neue Kriterien festzulegen für eine breitere Erfassung der Lebensstrukturen kleiner ländlicher Gemeinden mit starker Bevölkerungszu- und -abwanderung, aber allein auf der Datengrundlage von 42 "vollständigen" Familien historisch demographische Untersuchungen vorzunehmen, die vor allem differenzierte Fragen der Fruchtbarkeit betreffen, wäre für die Gemeinde Heilig Kreuz wenig sinnvoll. Imhof geht von 1000 vollständigen Familienbögen aus. 4a

Nun gilt es aber, das immerhin vorhandene wertvolle Quellenmaterial aus den Kirchenbüchern trotzdem auszuwerten, damit uns ein, wenn auch lückenhafter Einblick in die Zeit vor 200 bis 280 Jahren einige Aufschlüsse bringt. In die Untersuchungen wurden daher alle Einzeldaten mit einbezogen, die unter jeweils zuverlässigen und gleichen Bedingungen der Kartei entnommen werden können: also etwa das Heiratsalter nur eines Partners in einer gegenseitigen Erst Ehe, auch wenn Daten des anderen Partners fehlen. Im ganzen sind 175 Ehepaare in die verschiedenen Untersuchungen mit einbezogen worden. In den Tabellen wird nach Möglichkeit darauf hingewiesen, anhand wie vieler Beispiele die Ergebnisse zustande gekommen sind.


Entnommen: „1100 Jahre Wingarden“ - Kreuzweingarten 893-1993 - Mai 1993


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