750 Jahre Rheder 1240 - 1990

Ein Tag im Leben des Sigfrid von Rheder

Von Dr. Reinhold Weitz


Vorbemerkung:
Die Anfänge des heutigen Euskirchener Stadtteils und früheren Dorfes Rheder liegen im Dunkeln. Außer dem dürren Namen in der Urkunde von 1240 wissen wir über den ersten schriftlich genannten Rhederer nichts. Die nachfolgende Handlung ist also erdacht. Da jedoch alle hochgestellte Personen und Sachverhalte dokumentiert sind und die einschlägige Literatur zur Politik-, Kirchen- und Baugeschichte herangezogen wurde, dürften die Vorgänge und Gegebenheiten der Wirklichkeit zur Zeit der Ersterwähnung Rheders nahekommen.

An diesem Septembermorgen des Jahres 1239 war die Sonne gerade über dem Höhenrücken im Osten aufgegangen und begann, die Erftaue, in der noch der Frühdunst lag, in ihr Licht zu tauchen. In unregelmäßigen Windungen schlängelte sich der Bach durch eine grüne Niederung. Büsche und Kopfweiden, Wiesen und Feuchtland wechselten einander ab. Lange schon herrschte trockenes Wetter, die Erft führte wenig Wasser, das meiste war am nahen Wehr zum Mühlenbach abgezweigt worden. Die Furt nach Stotzheim zu, dessen wenige Hütten an der anderen Talseite noch im Halbschatten lagen, konnte leicht durchschritten werden. Obwohl es ein heller Frühherbsttag zu werden begann, wirkte die Landschaft fremdartig. Abweisend wie eine Mauer überspannte eine Reihe von steinernen Bögen und Pfeilern das Tal, mehrere hundert Meter war sie lang, an einigen Stellen klafften Lücken oder waren nur steinerne Schuttkegel übriggeblieben. Sie führte vom Fuß des Weingartener Buschs zum Rand der Hart. Auch in der Sonne verlor der Wall, der das Tal durchtrennte, nichts von seinem rätselhaften Aussehen. Seit Vorzeiten stand er hier - ein Teufelswerk, wie die Leute meinten, das man abtragen müsse. Was Wind und Wetter nicht fertiggebracht hatte, besorgten die Herren der Feste Hart, deren mächtiger Bergfried über dem Laubwerk des Niederwaldes aufragte. Ganze Karrenladungen von Grauwacke und Hausteinen waren beim Wiederaufbau der Burg verwandt worden.

In den strohgedeckten Fachwerkhäusern um den Rhederer Pütz regte sich Leben. Über eine Seilrolle glitt ein Schöpfeimer in die Tiefe des Brunnens, Wasser wurde in einen langen Trog gegossen, um den sich eine Herde Schafe drängte. Der bäuerliche Tag nahm seinen Anfang. Die wenigen Behausungen des kleinen Weilers lagen oberhalb der hochwassergefährdeten Talaue, ein zerfurchter Fahrweg lief zwischen den Wohnstätten unterhalb der Geländekante auf Weingarten zu. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand unterwegs. Der Ort war einer jener zahllosen, unauffälligen Siedlungen. Nur ein größerer Hof konnte die Aufmerksamkeit eines Auswärtigen auf sich ziehen. Auf einer künstlichen Insel mit einem Graben, der auch jetzt, nach einem trockenen Sommer durch die unterirdischen Wasseradern gefüllt blieb, war ein grob gefügtes Mauergeviert aufgeschichtet, zu dem ein Tor mit einer Zugbrücke Eingang gewährte. Sehr wehrhaft sah das nicht aus; kein Turm überragte die niedrigen Mauern. Mit den wenigen Schießscharten konnte man einer kriegerischen Belagerung nicht standhalten, aber die Anlage bot genug Schutz vor umherziehenden Banden - wie sie in diesen Jahren nicht selten waren.

Im Innern war Sigfrid, Herr des Hofes und über die Leute in Rheder, dem Ort an der Furt - wie der Name besagt, schon in lederner Reitkleidung und umgegürtetem Schwert. Das Alter hatte sein Haar ergrauen lassen, und seit dem kürzlichen Tod seiner Frau war es noch ruhiger und stiller hinter den Mauern geworden. Kinder blieben dem Ehepaar versagt. Der alte Mann hatte heute weite Wege vor sich. „Es ist brav von Dir, daß Du mir den Braunen schon gesattelt hast“, lobte er seinen Knecht. Er war aus der Tür des Hauses getreten, dessen Wände zwischen den Gefachen neu getüncht waren. Dunkle Blendläden und Stockrosen in voller Blüte gaben dem Hofinnern trotz der beiderseitigen Stallungen ein vornehmeres Aussehen. Aber er machte sich nichts vor, der Herr Sigfrid, ein großer Herr war er nicht, nur ein kleiner Mann, der seine Güter vom Münstereifeler Stift zu Lehen hatte. Dahin wollte er heute reiten, denn Propst Gottfried, der edelgeborene, weltgewandte und reiche Vorsteher im Monasterium der Heiligen Chrysant und Daria, hatte ihn zu sich gebeten. Sigfrid wußte um die Kunstliebe des geistlichen Herrn, und er wußte auch, womit er ihm eine besondere Freude machen konnte. „Die Zugbrücke ist herunter, Ihr könnt Euch auf den Weg machen“, ermunterte ihn der Knecht, der unter dem Torbogen wohnte und dem die Bewachung anvertraut war. „Haltet den Hof verschlossen, ich werde wohl über Nacht wegbleiben“, ermahnte ihn Herr Sigfrid im Hinausreiten. Er nahm den Weg nach Südwesten auf die Weingartener Höhe. Eine Hecke wies ihm die Richtung, in der auch die Schaf- und Ziegenherden oft auf das Ödland getrieben wurden, das nach Billig zu lag und von dem Sigfrid nur als dem Kaiserstein zu reden gewohnt war. Der Landstrich widerstand dem Pflug, er war übersät mit zerbrochenen Ziegeln, und zwischen den Dornenbüschen ragten manchmal mauerreste aus dem Boden und weißliche Steinplatten mit Schriftzeichen und Ornamenten. Nach starken Regenfällen war schon manches Geldstück mit dem Kopf eines Kaisers freigespült worden. Wer es war, wußte man nicht - gewiß heidnische Kaiser, denn solche Münzen wurden jetzt nicht mehr geprägt. Sigfrid hatte heute keinen Blick für all das. Auch die weite Sicht in die Ebene, auf die er an stillen Tagen gerne blickte - mit den Veybachdörfern Rüdesheim und Euskirchen, dessen breiter Maritinskirchturm in der Niederung ein Anhaltspunkt war, mit dem Kloster Hoven und dem ehrwürdigen Zülpich als einziger Stadt ringsum - verlockte ihn nicht. Sein Auge suchte am Waldrand den Graben, wo er gestern in der freigelegten Teufelsader den großen Steinbrocken aus Sinter hatte herausbrechen lassen. Er war nicht mehr da, und die Karrenspuren verrieten ihm, daß Barthel mit dem Gespann sich schon unterwegs nach Münstereifel befand. „Unser Herr Propst wird sich freuen, wenn ihm seine Steinmetzen aus dem Block eine Säule schlagen und schleifen“, ging es Sigfrid durch den Kopf. Er war stolz, daß er auf seinem kargen Land mit dem Eifelmarmor wenigstens ein so begehrtes gut hatte, wie es anderswo in dieser Stärke und Länge nirgends mehr gefunden wurde. Gabe es einen schöneren Zierat in den Kapelle als die glänzenden und gemaserten schlanken Säulen? Gern hätte er einen solchen Schmuck auch im Heilig-Kreuz-Kirchlein gesehen, das jetzt am Ende des Waldpfades vor ihm auf dem gegenüberliegenden Hügel sichtbar wurde und wo er immer mit seinen Rhederern die Messe besuchte. Als Sigrid den Hang hinabritt durch die Weingärten, die dem Ort den Namen gegeben hatten, schlugen die Hunde an. Roß und Reiter ängstigte das nicht. Er grüßte nur flüchtig den einen oder anderen, der neugierig herauslief.

Sigfrid gab seinem Pferd auf dem festen Fahrweg des Münsterberges die Sporen. Die höherstehende Sonne trieb ihn zur Eile. Nach rechts zwischen den Erlengehölzen des Broichs glänzte die Wasseroberfläche der Teiche. Nur von Kalkar her hatte man schon einiges Sumpfland entwässert und urbar gemacht. Er wunderte sich nicht, daß er in der Ferne Bauern mit Ochsengespannen sah. Mit den neuen Pflügen, die auch den schweren Boden aufbrachen, konnte die Erde für die Wintersaat vorbereitet werden. „Meine Sache ist das nicht mehr“, sinnierte der alte Reiter, „in meiner Jugend reichte das Ackerland aus, aber es werden immer mehr Menschen, und wie sollen sie alle satt werden, wenn nicht mehr Land unter den Pflug genommen wird?

Sigfrid war beim Dahintraben so in Gedanken, daß er richtig erschrak, als er plötzlich hinter einer Wegkehre eine Gruppe Männer und Frauen vor sich hatte. Sie waren zu Fuß und hatten sich zur Rast gelagert. „Was treibt ihr denn hier?“ fragte er. „Nun, Herr, schaut doch genau hin. Wir sind unterwege als Pilger und wollen im Stift an den Gräben der heiligen Märtyrer Chrysant und Daria für unseren lahmen Mitbruder Niklas bitten. Vielleicht widerfährt auch ihm ein Mirakel!“ Sigfrid konnte sich jetzt einen Reim machen auf die abenteuerlich aussehende Schar mit dem Kranken im Tragestuhl, die zwei dicke Kerzen und das Fäßchen bier, das als Opfergabe mitgeführt wurde. „Gott und die Heiligen mögen Euch helfen“, rief ihnen Sigrid zu, bevor er weiterritt. Das Erfttal wurde enger und die bewaldeten Hänge höher. Er hatte Kirspenich und Arloff, wo nicht mehr das Stift oder die Grafen von Are das Sagen hatten, sondern er Edelherr Gerlach von Dollendorf, zur Linken gelassen. Zweimal hatte er bei Iversheim die Furt der Erft durchschreiten müssen, bevor er erwartungsgemäß ein Pferdefuhrwerk vor sich hatte. „Da bist Du aber gut tüchtig vorangekommen“, redete er den Mann an, als er mit ihm auf gleicher Höhe war. „Bei der Trockenheit ist der Boden hart, bei regnerischem Wetter hätte ich es mit der steinernen Fracht allein nicht gewagt“, gab der andere zurück; es war Barthel. Vor ihnen zeichneten sich die Umrisse der großen Basilika ab. Seit einem Menschenalter war sie fertiggestellt. Auf dem mächtigen Westwerk blitzten die Turmbekrönungen im Licht. Über der Erft ragte ein Burghaus auf. Als sie endlich auf dem Stiftsplatz mit seinen steinernen Häusern, die säulengeteilte Bogenfenster und Schieferdächer hatten, anhielten, hatten sie das Gefühl, ihre eigene bäuerliche Welt hinter sich gelassen zu haben. Die kirchliche und städtische Umgebung verfehlte nicht ihren Eindruck.

Sie wurden bereits erwartet. Ein Diener geleitete Sigfrid vorbei an der Giebelseite eines schönen Hauses in einen Hof, wo sie nach Durchschreiten eines Türgangs und über einige Stufen in einen Raum kamen, in dem Propst Gottfried ihnen entgegentrat. Trotz seines Gewandes verriet die Haltung des etwa Fünfzigjährigen, daß er ein Mann war, der sich in der Welt auskannte. „Herr Sigfrid, seit mir willkommen. Es ist schön, daß Ihr der Bitte meines Boten so schnell gefolgt seid. Ihr wißt, daß mich meine Kölner Geschäfte nur selten im Münstereifeler Stift weilen lassen. Den Steinklotz, den Ihr mir habt bringen lassen, nehmen sich meine Bauleute schon vor. Er ist so viel wert wie Marmor aus dem fernen Italien. Ihr habt da, weiß Gott, Kostbarkeiten in Eurem Boden - eigentlich müßte ich unserem sagen - um die Euch auch die Kölner Bürger beneiden, die schon so manchen heidnischen Zierrat aus ihrer Erde geholt haben. Aber ich habe Wichtigeres mit Euch zu besprechen, bei Tisch sollten wir dafür mehr Zeit haben.“ Vom Turm wurde mit der kleinen Glocke gerade die zwölfte Stunde geläutet, und die beiden Männer nahmen an den schweren hölzernen Tisch Platz, als das Essen aufgetragen wurde. „Habt Ihr Euch schon mal Gedanken gemacht, was aus Eurem Lehen nach Eurem Tod werden soll?“ begann der Propst ohne Umschweife das Gespräch. Weniger das Thema als das mangelnde Feingefühl überraschte Sigfrid. Trotzdem spürte er, daß der Geistliche ihm nichts Arges wollte. „Herr Gottfried“, erwiderte der Angesprochene, „Ihr wißt, daß mein Geschlecht mit mir dahinstirbt. Ich bin seit kurzem Witwer und in einem Alter, in dem man von der Welt Abschied nehmen muß. Der Sinn steht mir nicht mehr nach irdischem Gewinn, und das gewalttätige und rechthaberische Treiben der kleinen Herren ringsum, die immer mehr haben wollen und sich aufführen, als wären sie wie Ihr hoch- und edelgeboren, mißfällt mir. Da lobe ich mir den Ritter Gottfried von der Tomburg, der im vorigen Jahr um seines Seelenheils willen im Talschluß oberhalb Schweinheim ein Kloster nach der Zisterzienserregel stiftete, in das seine Gattin und Töchter eintraten und das allen Frauen von Stand offensteht.“

Der Probst begleitete mit einem zustimmenden Nicken Sigfrids Ausführungen und ließ ihn gar nicht zu Ende kommen, da er fortfuhr: „Ich würde also, wenn ich Euch recht verstehe, in Eurem Sinn handeln, wenn die Münstereifeler Kirche nach Eurem Ableben ihre Güter in Rheder in geistliche Hände übertragen würde und - fürwahr, Euer Beispiel bringt mir den Gedanken nahe - was spräche dagegen, die Äbtissin des neuen Konvents „zur Himmelspforte“ im Schweinheimer Wald damit zu bedenken?“ Er machte eine Pause, um die Wirkung der Worte auf sein Gegenüber zu prüfen. Sigfrid gab den Blick zurück und lächelte. Er wußte, daß sie beide in ihrer Werthaltung übereinstimmten und daß gerade die zisterziensische Idee auf den hohen Geistlichen eine unwiderstehliche Anziehung ausübte, hatte der Propst doch selbst vor fünf Jahren das St. Marien-Kloster zu Bottenbroich aus eigenen Mitteln gestiftet. Als wenn Herr Gottfried die Gedanken des anderen erraten hätte, nahm er das Gespräch wieder auf. „Ihr wißt, daß ich pro remedio animae meae (um meines Seelenheils willen) auch so gehandelt habe, denn die Versuchungen, denen der Mächtige ausgesetzt ist, sind groß. Ich bin in der Stadt Köln ein reicher Mann. Von meinem Haus in der Trankgasse führt ein eigener Gang am Domturm vorbei in die Kathedrale. Unser Bischof, der Kanzler des Reiches, redet mich vertrauensvoll mit dilectus clericus noster (unser geliebter Kleriker) an, und ich gelte unter den Domkanonikern als wichtigster Ratgeber des Fürsten - nun, ich sage das nicht, um mich vor Euch zu brüsten - aber in solch einer Rolle ist die Überhebung im Geiste nicht fern, und der Reichtum lenkt ab. Es freut mich deshalb, daß wir uns in Eurer Nachfolgeangelegenheit verstehen..“

Sie vertieften im weiteren ihre Überlegungen, und es blieb nicht aus, daß sie wie nebenher auch auf den Grund für den Aufenthalt des Propstes hier im Eifeltal kamen. „Unser neuer Herr Bischof Konrad ist ein Graf Are-Hochstaden - aber wem sage ich das - er hat Großes mit dem Erzstift vor. Heute abend will ich mich mit seinem Halbbruder Friedrich auf dem festen Haus in der Hart treffen, um über die zukünftigen Geschicke der Kölner Kirche zu beraten. Ihr, Sigfrid, seid zwar nie weit herumgekommen, aber ein lebenserfahrener und unparteiischer Mann. Hättet Ihr nicht Lust, mit mir auf die Hart zu reiten?“ Sigfrid fühlte sich von so viel Vertrauen geehrt und sagte ohne Bedenken zu. Während des Mittagsmahls wechselten die beiden dann zu alltäglicheren Themen, bevor sie am frühen Nachmittag mit zwei bewaffneten Begleitern zu Pferde aufbrachen. Sigfrid hatte Barthel mit dem Fuhrwerk schon zurückgeschickt und ihm ausgerichtet, daß er über Nacht ausbleiben würde. Das Wetter war angenehm warm. Die Männer redeten nicht viel miteinander. Der kleine Reitertrupp bog auf der Höhe von Arloff vom Hauptweg ab und nahm über Kirspenich den Aufstieg zum Hartbusch. Sie waren nicht in Eile und ließen ihre Blicke nach Westen in die Senke schweifen, wo am Waldrücken die Zievel mit Turm und Mauern mehr zu erahnen als zu sehen war. „Es ist ein Ärgernis, daß die Zieveler Edelherren ihr festes Haus nicht mehr von Köln zu Lehen nehmen. Das ganze obere Erfttal ist kölnisch, und in den immer rauheren Zeiten tun die kleinen Herren gut, sich unter den Schutz eines Mächtigeren zu begeben. Ich hoffe nicht, daß der Jülicher Graf dahintersteckt. Da lobe ich mir den Herrn Gerlach von Dollendorf. Der hält sich an unseren Bischof und weiß, daß das für seine beiden Dörfer hier (Arloff, Kirspenich) in der Reichweite unseres Hauses (Hart) nur von Vorteil ist.“ Es war unverkennbar, daß, je näher sie ihrem Ziel kamen, Herrn Gottfrieds Denken in den Sog der Politik geriet. Unmerklich beschleunigte er die Gangart seines Pferdes, als sie den Wald, in dem Niederholz und alte Buchen und Eichen abwechselten, durchritten. Nach einer Wegkreuzung bogen sie nach rechts, und im selben Moment, als sie erstmals die Burg ganz vor sich hatten, ertönte ein Hornsignal des aufmerksamen Wächters. Ihre Ankunft wurde gemeldet. Sie wunderten sich nur, daß die Brücke schon heruntergelassen war und im Innenhof unter Geschrei hin- und hergelaufen wurde. Sie selbst waren doch wohl nicht der Grund der Aufregung? „Entschuldigt, Ihr Herren“, begrüßte sie der Burgvogt. „Wir haben gerade einen Delinquenten eingesperrt, der gewildert hat. Es ist Lambert aus Stotzheim, und stellt Euch vor, Herr Sigfrid, beinahe wäre er uns entwischt, hätten wir ihn nicht vor Eurer Schäferei am Rhederer Brunnen gefaßt. So wird er gerechterweise bei uns, wo er auch gefrevelt hat, bestraft. Die Schöffen des Kuchenheimer Dingstuhls müssen das Urteil fällen. Aber erst einmal sitzt er im Block. Die Jagd ist ein Herrenrecht, da haben wir Bauern sich drauszuhalten... So, jetzt können wir uns ernsteren Gesprächen zuwenden. Steigt ab, die Pferde werden versorgt. Graf Friedrich wartet schon im Kaminzimmer des Turms auf Euch.“

Nachdem sie am Brunnen Hände und Gesicht vom Staub abgewaschen hatten, stiegen sie die hölzerne Außenstiege hoch, die bei Gefahr gekappt werden konnte. Beim Eintritt in das erste Geschoß des Bergfrieds mußten sich ihre Augen an die Dunkelheit des Raumes gewöhnen. Nur zwei Fensterschlitze durchbrechen die meterdicken Mauern. An der fensterlosen Wand brannte unter einem mächtigen Rauchfang ein Feuer, Kerzen an den Seiten gaben zusätzliches Licht. Graf Friedrich von Hochstaden erhob sich von seinem Stuhl. Er trug einen langen Samtrock mit einem breiten Ledergürtel, sein glattes Haar reichte bis in den Nacken, an seiner linken Hand leuchtete ein goldener Siegelring auf. „Aha, der Herr probst bringt noch unseren alten Sigfrid mit. Das ist richtig, zu dritt lassen sich besser Pläne schmieden.“ Und er gab nach dem Domkanoniker auch dem Lehnsmann aus Rheder einen festen Händedruck, kannten sich beide doch schon lange und hatte Sigfrid öfter für die Grafen, die Obervögte des Münstereifeler Stifts waren, Rechtsaufgaben und solche der Friedenswahrung übernommen, so daß der Hochstadener ihn als seinen Mann betrachtete. Nachdem sie einen Becher Wein zur Begrüßung genommen und ein paar Allgemeinplätze ausgetauscht hatten, stiegen die drei über eine Spindeltreppe im Turm hoch, bis sie ganz oben auf der offenen, aber mit einer flachen Haube gedeckten Plattform angekommen waren. Es ging kaum Wind, und die schon tiefstehende Sonne zeichnete scharf die Konturen der Landschaft, in die man weit hineinschauen konnte. „Es paßt gut, daß wir erst in Augenschein nehmen, worüber wir gleich zu beratschlagen haben“, begann Graf Friedrich. „Ich kenne neben der Tomburg keinen zweiten Platz, wo man sich so wie hier als Herr über Land und Leute fühlen kann. Das Schloß Hart ist nach der Zerstörung fester als jemals - Ihr seht's mit höheren und breiteren Mauern, tieferen Gräben, mit Zwinger und Wehrgängen. Ein zweites Mal könnte Bischof Bruno von Sayn nicht wie anno 1205 unser Haus hier einnehmen. Die Hart ist mein Erbgut. Die Wälder ringsum gehören uns oder unseren Vasallen. Altenahr und Hochstaden im südlichen Bergland sind unser. Über die Münstereifeler Kirche haben wir die Schutzherrschaft. Der Müllenarker auf der Tomburg hat meine Schwester geheiratet. Unser Verwandter Hermann aus dem Burggrafengeschlecht von der Ahr ist dabei, im oberen Kuchenheim sein Haus zu befestigen ...“ „Bevor ihr fortfahrt“, unterbrach ihn der Domherr, „Ihr vergeßt die mächtigste Stütze Eures Hauses, unseren Bischof Konrad. Wir beide wissen, daß er ein unternehmender und entschlossener Mann ist. Seine derzeitige Fehde mit den Grafen von Sayn und Berg zeigt, daß er das Kölner Erzstift zusammenhalten will. Er soll und muß mächtiger werden. Köln ist dabei - und ich weiß, wovon ich rede - sich die Lehen der Reichsabtei Prüm in Münstereifel, Rheinbach und Wichterich zu sichern. St. Pantaleon hat den Hofverband Euskirchen erworben. Flamersheim hier unten ist aus dem pfalzgräflichen Besitz in die Hände des Mariagradenstifts (am Dom) gekommen. Nicht weit von der königlichen Heerstraße zwischen Aachen und dem Rhein, die Ihr da hinten sehen könnt, wird unser Lehnsmann im Weiler Ringsheim ein festes Haus bauen. Seitdem Eure Familie, Graf Friedrich, den Erzstuhl bestiegen hat, sind die Voraussetzungen gut, daß an Erft, Ahr und Rhein alles kölnisch wird - eine Terra Coloniensis, wie die Rechtsgelehrten sagen. Aber Ihr wißt, wer uns die schönen Hoffnungen trübt ... da und da und dort“, und Propst Gottfried beugte sich über die Zinnenmauer und deutete mit dem Arm ins Land. „Im unteren Kuchenheim macht sich der Monschauer Graf breit, in Rüdesheim sitzt ebenfalls das haus Monschau-Falkenburg, der Heinsberger, sein Verwandter, tritt bereits als Vogt im Dorfverband Euskirchen auf, auch in Stotzheim haben die Monschauer schon Besitz. Dahinter steckt der Herzog von Limburg und das Haus Brabant. Die haben es auf die Wege zum Rhein abgesehen, um am Handel zu verdienen.“ „noch weniger durchschaue ich die Absichten der Jülicher Grafen“, mischte sich nun wieder Graf Friedrich ein. „Eigentlich müßte ich ja anders reden, weil meine Nichte Mechthild die Braut des Herrn Walram von Jülich ist. Aber diese Emporkömmlinge aus dem Rurtal mit ihrer Feste Nideggen scheinen unersättlich zu sein. Sogar die Vogtei Münstereifel hatten sie vor kurzem schon einmal abgenommen, an den bösen Streit um die Stadt Zülpich will ich gar nicht erinnert werden. Auch wenn sie dem Erzstift den Lehnseid schwören, ist kein Verlaß auf sie. Der Dollendorfer Edelherr ist uns jetzt mehr gewogen.“

Es wurde kühl, da die Sonne unterging. „Steigen wir hinunter ins Kamingemach“, lud der Hausherr ein, „da läßt sich jetzt besser über die weltlichen Geschäfte sprechen. Einen Anschauungsunterricht haben wir uns erteilt.“ Als sie um den Tisch saßen, auf dem das Abendbrot aufgetragen war, ergriff der Geistliche schnell das Wort. Sigfrid spürte, daß der Propst, der auf dem Hinritt viel geschwiegen hatte, froh war, endlich dem Hochstadener seine Pläne auszubreiten. „Ich bin lange genug in hohen Diensten, habe zu oft Briefe aufgesetzt und gesiegelt, um nicht urteilen zu können. Unser Herr Bischof ist ein mutiger und weitblickender Mann, die Kölner Kirche hat einen klangvollen Namen, aber sie muß ihren Blick nach vorn richten. So wie wir im Domkapitel und Priorenkolleg eine neuere, schönere Kathedrale planen, um dem ehrwürdigen Schrein der Dreikönige ein strahlendes Haus zu geben, so muß auch das Erzstift Rang und Ordnung neu begründen. Der Kaiser ist weit weg in Apulien, er kümmert sich wenig um das Reich. Der Papst hat ihn gerade erneut gebannt. In diesen unruhigen Zeiten muß das Erzstift als Friedensbewahrer zwischen Rhein und Maas auftreten. Ihr, Herr Friedrich, denkt dabei, wie mir scheint, mehr an verwandtschaftliche Bindungen - an eine Doppelhochzeit, z.B. zwischen Eurer Schwester Margarete und Adolf von Berg und Limburg sowie Eurem Neffen Dietrich und Berta von Monschau, um die Feindschaft zu den mächtigen Nachbarn im Westen abzubauen, oder auch eine Versippung der Häuser Hochstaden und Jülich. Das sind vortreffliche Pläne, aber Blutsbindungen und Treuegelöbnisse zu großen Vasallen allein genügen nicht mehr. Ihr seht tagtäglich, daß darauf immer weniger Ordnung und Recht gegründet werden können. Das Kölner Herzogtum in West und Ost mit seinem Landfriedensgebot ist heute wirkungslos. Wir müssen Einzelrechte daraus herauslösen wie Befestigungsrecht und Zölle, müssen eigene Amtsleute einsetzen und aus Dörfern Städte gründen - vor allem schon geschaffene Herrschaftsbezirke erwerben. Nur so kann ein mächtiges Erzstift entstehen, das nicht auf die Gunst der Edelherren angewiesen ist - eine echte Terra Coloniensis.“ Der Propst machte eine Pause. Auf der anderen Seite des Tisches atmete der Graf von Hochstaden tief durch - er hatte erkannt, worauf der Kleriker hinauswollte. „Ihr schlagt also vor,“ sagte er gemessen und deutlich Wort für Wort, „daß ich die ganze Hochstadensche Grafschaft an die Kölner Kirche übertrage, da ich keine eignen leiblichen Erben habe.“ Schweigen breitete sich im Raum aus. Dann führte der Propst einen Dialog fort. „Ihr solltet darüber nachdenken. Einen Entschluß solcher Tragweite faßt man nicht hier und jetzt. Ihr tätet es auch nicht nur wegen Eures Seelenheils, sondern weil der Kölner Bischof sich nur als Landesherr - Ihr ahnt jetzt, wie ich das meine - durchsetzen kann. Ihr schätzt Euren Bruder Konrad auf dem Kölner Stuhl, vielleicht erleichtert Euch das die Entscheidung - und seht auch unseren Sigfrid hier an. Aus solchem Holz stelle ich mir künftige Amtsleute vor: diensteifrig und umsichtig, die vor Ort den Landesherren vertreten, auf ihn angewiesen sind und von ihm belehnt werden ...“



Nachwort:
Wir verlassen hier unsere fiktive Männerrunde. Folgende Tatsachen sind nachzutragen. Sigfrid starb spätestens im Jahr darauf. Die Güter zu Rheder kamen 1240 an das Nonnenkloster Schweinheim. Von Propst Gottfried wissen wir, daß er noch lange urkundete, sein Tod ist für 1258 bezeugt.

Der Erzbischof Konrad hatte es immer schwerer, sich gegen die neuen Territorialgewalten zu behaupten. Der Jülicher setzte ihn sogar 1242 in Nideggen gefangen. Die Tendenz, statt der herzoglichen und lehnshoheitlichen Gewalt eine Landesherrschaft zu begründen, wurde für Köln durch die Hochstadensche Erbschaft 1246, bei der Propst Gottfried als Hauptzeuge fungierte, verstärkt. 1248 begann der Bau des gotischen Doms. Das Kölner Erzstift muße aber nach der Schlacht bei Worringen 1288 seine niederrheinische Vorherrschaft aufgeben. Die Jülcher Grafen setzten sich im oberen Erfttal fest. Das Amt Hart, zu dem auch die Dollendorfer Besitzungen Arloff und Kirspenich gehörten, blieb jedoch kölnisch. Die Monschauer Falkenburger Nebenlinie des Hauses Limburg rivalisierte mit Jülich und Köln um den Einfluß in unserer Region. Nun erst entstanden im Ringen der Territorialherren die zahlreichen Burgen in unseren Dörfern. Der Stadtwerdungsprozeß setzte auch bei uns verstärkt ein. 1302 erhielt Euskirchen städtische Rechte.


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