Der Dechant
von Josef Hermes




Wer den Vorplatz der Keldenicher Kirche betritt, sieht rechts die Grabstätte von drei Priestern, die in dieser Pfarrei gewirkt haben und hier beerdigt wurden. Auf dem Sockel des Grabsteins wird ein Spruch aus dem Hebräer Brief zitiert: „Gedenket Eurer Vorsteher, die Euch das Wort Gottes verkündet haben.“ Wenn die Keldenicher diesen Spruch in die Tat umsetzen und ihrer Vorsteher gedenken, so drängt sich unwillkürlich Dechant Wolfgarten in den Vordergrund. Auf seiner Grabplatte steht: „Hier ruht in Christo der Ehrendechant Monsignore Jakob Wolfgarten, geb. am 30. August 1850, gest. am 4. Jan. 1934“. Sein Name wird heute noch von den ganz alten Pfarrangehörigen mit Achtung genannt, und man ist nach wie vor der Meinung, daß er auch einem größeren Wirkungskreis hätte vorstehen können.


Grabstätte Monsignore Jakob Hubert Wolfgarten Keldenich - Foto vom 1. November 2010

Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einen dankbaren Rückblick zu halten. Dechant Wolfgarten wurde als jüngster Sohn einer alteingesessenen Landwirtsfamilie in Rheder, Pfarrei Kreuzweingarten geboren. Nachdem er seine Gymnasialzeit in Euskirchen und Münstereifel beendet hatte, studierte er an den Universitäten Münster, Würzburg und Löwen und trat Ostern 1875 ins Priesterseminar Köln ein. Hier empfing er vom Erzbischof Paulus Melchers die niederen Weihen. Als infolge der Wirren des Kulturkampfes das Kölner Priesterseminar am 10. November 1875 polizeilich geschlossen wurde, fand der damalige Diakon Jakob Wolfgarten gastliche Aufnahme im Priesterseminar in Meaux bei Paris. In der dortigen Domkirche spendete ihm Monsignore Richard, damals Weihbischof und später Kardinal von Paris, am 29. Juni 1876 die hl. Priesterweihe. Seine priesterliche Laufbahn begann er am 17. Juli 1876 als Pfarrer in Chambry bei Meaux. Dort wurde er freundlich aufgenommen, obwohl er aus dem Lande der Preußen stammte. Im Jahre 1885, nach Beendigung des Kulturkampfes, wurde er von dem Leiter der Erzdiözese Köln gebeten, nach Deutschland zurückzukehren. Das Heimweh tat das übrige, und so kam er 1885 nach Deutschland zurück.

Von 1885-1891 war er Pfarrverwalter von Bechen, einer Pfarrgemeinde bei Bergisch Gladbach. In einem Schreiben wird erwähnt, daß er kränklich und schwächlich gewesen sei. Diesem Umstand ist es wohl zu verdanken, daß er später nach Keldenich in die gesunde Luft der Eifel kam. Am 5. Sept. 1891 wurde Pfarrer Jakob Wolfgarten von dem damaligen Dechant Niessen aus Kall feierlich eingeführt. Diese Einführung wurde ein großes Fest für die Gemeinde.


St. Dionysius zu Keldenich - Foto vom 1. November 2010

Nun war er da, ein Pastor, der Eifeler Dialekt verstand, der in der Kirche ein gutes Latein sprach und noch ein besseres Französisch. Französisch sprach er allerdings nur mit seiner Haushälterin. Ihr Name war war Euphrasia Sugot und stammte aus St. Jean bei Paris. Sie wurde 91 Jahre alt und war 33 Jahre Haushälterin bei Pfarrer Wolfgarten. Von den alten Keldenichern, die sie noch persönlich gekannt haben, wurde sie als ein alte, am Stock gehendes, zartes Persönchen beschrieben. Sie hatte in bräunliches Gesicht, welches aus unzähligen Falten bestand, zwei dunkle, lebhaft sprechende Augen und eine dünne, mit Flaum bewachsene Oberlippe. Ob sie, wie verschiedene Pfarrhaushälterinnen, die in Romanen und Filmen beschrieben werden, auch Haare auf der Zunge hatte, haben die Einwohner nie herausgefunden; sie verstanden ja kein französisch. Im Dorf wurde sie nur „die Mamsell“ genannt. Sie sprach kein Wort deutsch. Deshalb blieb sie immer ein bißchen geheimnisvoll. Es ist anzunehmen, daß sie, gerade weil sie aus Frankreich kam, eine gute Köchin war. Jeden Morgen und jeden Abend, so wird berichtet, ging sie zur Kirche. Von daher hatte sie eine gewisse Vorbildfunktion. Am 23.5.1905 ist sie gestorben. Nach ihr wurde Anna Sistig, besser bekannt als „Sestens Ann“, Haushälterin. Sie hatte auch vorher der alten Mamsell schon oft geholfen.

Beim Antritt des neuen Pfarrers war Keldenich eine größere Pfarrei als heute. Zu ihr gehörten das Burggut Dalbenden, die Ortsteile von Sötenich und Kall rechts der Urft und Stürzerhof. Diese Aufteilung war noch ein Überbleibsel aus der alten Zeit, als der Verlauf der Urft gleichzeitig Landes- und Pfarrgrenze war. Im 14. Jahrhundert, als Sötenich noch unter dem Patronat von Steinfeld stand, wurde dort schon eine Quirinuskapelle genannt. 1536 wird diese Quirinuskapelle als Filiale der Pfarrkirche Keldenich aufgeführt. Die Quirinuskapelle wurde 1870 abgerissen und 1872 durch eine neue Kirche ersetzt, die dem hl. Matthias geweiht wurde. 1875 wurde Sötenich Rektorat und erhielt 1899 das Recht zur Taufe und 1915 das Recht zur Trauung und Beerdigung. Die Zeit bis dahin war für die Sötenicher sicher keine glückliche Epoche, denn in den alten Unterlagen findet man manche spitze Bemerkung gegen die Keldenicher. Besonders schlimm wurde es, als eine Sötenicher Familie der Mutterkirche in Keldenich eine Schenkung machte. Im Jahre 1770 machten Johann Michael Heinrichs und Elisabeth geb. Müller aus Sötenich eine Monstranz und einen Meßkelch zum Geschenk. Man kann verstehen, daß die Sötenicher später als die eigene Pfarrei wurden, diese Stiftung gerne für sich reklamieren wollten. Aber mittlerweile haben sie die Unanfechtbarkeit erkannt, und das Ganze ist kein Thema mehr.

Es soll aber noch betont werden, daß die Sötenicher später auf Pfarrer Jakob Wolfgarten, der ja auch ihr Pfarrer war, nichts kommen ließen. Wenn er in Ausübung seines Dienstes in Sötenich weilte, natürlich zu Fuß, ließen sie ihn nicht gehen, ohne eine Stärkung anzubieten. Eine kranke Frau, so wird berichtet, schoß da ein wenig übers Ziel hinaus. Sie bot ihm jedesmal, ehe er sich auf den Heimweg machte, ein Gläschen Schnaps an. Es soll derselbe gewesen sein, den die Frau benötigte, um ihr krankes Bein zu kühlen. Die Frau hat es sicher gut gemeint, und Pastor Wolfgarten hat es offensichtlich nichts geschadet.

Zwischen Kall und Keldenich war damals die kirchenrechtliche Beziehung so ähnlich wie mit Sötenich. Dies änderte sich offiziell erst am 17. März 1924. Aber auch die Kaller standen zu ihrem Pastor. Besonders die, die rechts der Urft wohnten. Die Kölner würden sagen: „Die von der Schäl Sik“. Sie wurden nicht nur in Keldenich getauft und getraut, sondern auch beerdigt. 1991 wurde die letze Grabstätte aus dieser Zeit in Keldenich eingeebnet. Es waren die Vorfahren der Familie Gräfen aus Kall. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß in all den Jahren auch von Kaller Bürgern einige nennenswerte Schenkungen an die Mutterkirche in Keldenich gemacht wurden. Die Keldenicher Pfarrei war damals mit den 300 seelen aus Sötenich und den 200 aus Kall eine 1000 Seelen Gemeinde, bestimmt keine leichte Aufgabe für den neuen Pfarrer. Es ist ihm sicher nicht geglückt, alle auf den richtigen Weg zu führen, aber er war sehr darum bemüht. Natürlich deckte sich seine Vorstellung vom richtigen Weg nicht immer mit denen seiner Pfarrkinder, den er war ein streng katholischer, konservativer Mensch. Daß ein junger Mann vorne auf seinem Fahrrad seine Freundin mitführte und dabei nur eine Hand an der Lenkstange hatte, damit war er gar nicht einverstanden. Bei der nächsten Predigt bekamen die Gottesdienstbesucher zu hören: „Da kamen sie gefahren, eine Hand an der Lenkstange und die andere? Man soll es nicht für möglich halten!“

In dieser armen Zeit war er aber auch sehr um das leibliche Wohl seiner Pfarrkinder bemüht. Wer arm war und zufällig seine Konfektionsgröße hatte, konnte sich glücklich schätzen. Von seiner Güte profitierte auch Valentin aus Zülpich. Valentin hatte früher einmal in Keldenich als Knecht gearbeitet, kam aber auch, nachdem er nicht mehr im Arbeitsverhältnis stand, jedes Jahr zu Fuß von Zülpich nach Keldenich zur Kirmes. Er lud sich selber ein. Als er einmal Kirmessonntag verspätet - nach dem Motte: „Hallo, hier bin ich!“ - strahlend in der Tür seines ehemaligen Arbeitgebers stand, fragte der Bauer nach dem Grund seiner Verspätung. Valentin strahlte über alle vier Backen und sage: „Ich wor et iech noch beim Dechant, kick ens, her hät mer noch en joot Botz jejäwe.“


Keldenicher Kapellche - Foto vom 1. November 2010

Ich weiß nicht, wie ich Dechant Wolfgartens Verhältnis zu seinen Mitmenschen beschreiben soll. Einerseits war er schon anders, anderseits gab es auch keine Schranken. Auch wir Kinder hatten ihm gegenüber keine Hemmschwellen. Wenn wir ihn sahen, zogen wir die Mütze oder gaben ihm die Hand. Er hat manche schmutzige Hand gedrückt, wenn die Kinder ihr Spiel auf der Straße unterbrachen und zu ihm hingingen oder er zu ihnen. Oder war er vielleicht doch etwas besonderes?

Der Dechant war fromm. Man hatte bei ihm das Gefühl, daß er das, was er predigte, auch versuchte vorzuleben. Und er war ein großer Marienverehrer. Er band die Marienkapelle mit in die Prozession auf Fronleichnam ein und jedes Mädchen, das zu seiner Zeit getauft wurde, bekam als Zweitnamen den Namen Maria. Dazu war er ein Frühaufsteher, Keldenicher, die zu Fuß zum ersten Frühzug gingen, weil sie zur Frühschicht mußten, haben oft berichtet, daß er ihnen auf dem Weg nach Kall schon begegnet sei, als er vom Kapellchen zurückkam.


Grafik Bernd Kehren Keldenich

In der Keldenicher Kirche gibt es vieles, was an Dechant Wolfgarten erinnert. Es würde zu weit führen, hier alles aufzuzählen, und es wäre auch sicher nicht in seinem Sinne. Aber ich bin der Meinung, die wertvolle Weihnachtskrippe von 1909 sollte man schon erwähnen. Ein jahrzehntelanges Mitglied des Kirchenvorstandes wurde einmal gefragt, wie denn wohl die vielen teuren Anschaffungen bezahlt würden. Er antwortete: „All Rechnunge wäre pünklich bezahlt, wer ävver et Jeld davüer jet, dat wees der Kuckuck.“

Dechant Wolfgarten wirkte 40 Jahre in der Pfarrei Keldenich. Von 1903 bis 1920 war er Dechant des Dekanates Steinfeld. Danach wurde er Ehrendechant. 1926 feierte er sein goldenes Priesterjubiläum zusammen mit seinem Küster und Organisten Franz Nettersheim, der ebenfalls sein 50jähriges Dienstjubiläum feierte, ein Fest, daß kein Keldenicher versäumt hat. Am 15. November 1931 trat er in den Ruhestand und lebte bis 1934 im St. Barbara Kloster in Kall, wo er am 4. Januar starb.

In Keldenich, dem Ort, in dem er 40 Jahre gelebt hatte, wurde er auch begraben. Alle, die ihn in guter Erinnerung hatten, waren zu seiner Beerdigung gekommen, und das waren nicht wenige. Die Kirche war an diesem Tage viel zu klein. Später wurde sogar die Hautstraße durchs Dorf nach ihm benannt. Auch wenn er nach 1926 zum Monsignore ernannt wurde, für die Keldenicher blieb er immer „der Dechant“.


Entnommen: Ehe die Erinnerungen verblaßt sind, von Josef Hermes, Keldenich Mai 1999,
Grafik Bernd Kehren Keldenich
Ergänzungsfotos woenge.de




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